Interview mit Holger Beyer, VBAD e.V. zum 10-jährigen Jubiläum des Demenznetz-Erzgebirgskreis
SF: Wie sind Sie dazu gekommen sich mit dem Thema Demenz zu beschäftigen und wie sind sie dazu gekommen, dann ein Demenznetzwerk aufzubauen?
HB.: Das hatte private Gründe. Nach dem Tod meines Vaters war meine Mutter alleine und baute immer mehr ab. Meine Mutter ist an einer Demenz erkrankt und wir hatten damals von dieser Erkrankung keine Ahnung. Da sie alleine war, haben meine Frau und ich sie zu uns nach Hause geholt 10 entbehrungsreiche Jahre gepflegt. Nach ihrem Versterben war eigentlich der Hauptpunkt der, dass wir feststellten, dass es für die Betroffenen sehr viele Angebote gibt, wie z.B. Pflegedienste, es aber für die Angehörigen nichts gibt. Dann habe ich mir Gedanken gemacht, was man für Angehörige anbieten könnte und habe mich mit verschiedenen Krankenkassen in Verbindung gesetzt. Dort habe ich schnell Zusagen bekommen für die Durchführung von Pflegekursen und 2007 mit der BARMER einen Leistungsvertrag abgeschlossen. Allerdings war ich zu dem Zeitpunkt noch als Privatperson alleine und nicht in einem Verein organisiert.
Ich habe dann Hartmut Decker kennengelernt, der bereits über ausreichende Erfahrung im Vereinswesen verfügte. Mit seiner Unterstützung haben wir dann am 26.11.2007 den „Verein zur Betreuung Angehöriger Demenzkranker“, den VBAD e.V. gegründet. Der „VBAD“ ist eigentlich das Kernstück über den das Netzwerk läuft.
„Du willst helfen, aber was ist Hilfe?“
Nach der Gründung des Vereins hatten wir die Frage zu klären „Was ist Hilfe?“. Wir haben aus eigener Pflegeerfahrung gemerkt, dass Du den Dingen hinterherläufst und dass Du eigentlich machtlos bist. Das schöne war, als wir unser erstes Angehörigengespräch 2008 in Lauta hatten, hatte eine Ehefrau 10 Minuten ihre Situation erzählt und dann habe ich gesprochen. Danach suchte sie keinen Kontakt mehr. Mein Fehler war, dass ich zu sehr die Initiative ergriffen hatte und zu viel geredet hatte anstatt ihr zuzuhören. Wir haben über die Jahre unserer Beratung gelernt, dass es 2 Sachen gibt, die man gleich zu Beginn deutlich machen muss:
- Wir können weder die Krankheit stoppen,
- noch die Angehörigen aus der Situation herausnehmen.
Da man sonst falsche Erwartungen wecken kann. Wenn Angehörige sich an uns wenden, dann sind sie oft an einem Punkt an dem sie nicht mehr können. Oft haben sie die Wünsche, von uns eine Anleitung zu bekommen was sie zu machen haben und ihr Problem sei dann gelöst. Das ist völlig fehl am Platz, … das kann keiner. Manche Angehörige fragen dann, was können wir dann? Und das ist genau der Punkt wo man mit den Angehörigen ins Gespräch kommen kann und die Angehörigen reden lassen kann. Vielen Angehörigen tut es gut, wenn sie darüber reden können. Ich habe dann gemerkt, was wirklich Hilfe ist, … was keiner erbringt, weil es nicht bezahlt werden kann – Zuhören. Durch das Zuhören kann sich das Gegenüber „ausschütten“ und „leer reden“. So bekommt er auch wieder Platz für neue Inhalte… Sie sehen es an der Tasse, wenn sie voll ist, kann man nichts hineinschütten, ….
2008 haben wir unsere erste empirische Erhebung gemacht und Hausärzte mit einem Fragebogen angeschrieben und hatten von 112 Ärzten einen Rücklauf von 92 Fragebögen. Inhalt war u.a. zu erfassen, welche Fragen von den Angehörigen an die Hausärzte herangetragen werden und welche Möglichkeiten sie haben Hilfsangebote anzubieten. Das war der Punkt als wir gemerkt haben, dass Hausärzte damit überfordert sind und von Hilfsangeboten für Angehörige nichts wussten. Das kann man von einem Hausarzt auch nicht verlangen. Die einzige Überweisungsmöglichkeit war die Klinik, was zu einem „Krankenhaus-Tourismus“ führte. Neurologen hatten häufig keine freien Termine und zudem noch eine Menge andere psychische Erkrankungen um die sie sich kümmern müssen. In den Kliniken sind die Betroffenen medikamentös eingestellt worden. Die Besserung hielt jedoch oft nicht lange an, weil die Medikamente über das Wochenende ausgeschlichen waren, so dass die Angehörigen den Betroffenen am Montag wieder in die Klinik bringen mussten. Das war letztlich keine Hilfe.
Pflegende Angehörige haben auch oft sehr viele Termine, so dass wir nie einen Termin vereinbart hatten um keinen weiteren Druck aufzubauen. Die Angehörigen sollten immer selbst anrufen und Gesprächstermine vereinbaren, wenn sie Zeit haben. Seit über zehn Jahren haben wir gut 1000 Gespräche mit Angehörigen im Erzgebirgskreis geführt und das zeigt, dass Bedarf da ist und dass unser Angebot angenommen wird. Es ist jedoch ein großer Kraftaufwand, der nicht finanziert wird.
Ich habe seit 25 Jahren Erfahrung in der Sozialarbeit, habe mit psychisch Kranken oder Wohnungslosen zu tun gehabt, aber was man hier mit Demenzkranken in der Häuslichkeit erlebt geht gar nicht….
SF: Was meinen Sie da genau?
HB: Der Umgang miteinander, … es gibt eigentlich zwei Beziehungskonstellationen, … entweder Kinder zu den Eltern oder als Paar untereinander. Viele Konflikte sind hier gewachsen. Kinder leben oft nicht im gemeinsamen Haushalt. Sie können Pflegedienste organisieren und ab und zu, zu Besuch kommen. An dem Tag, an dem ich mir einen Menschen mit Demenz ins eigene Wohnumfeld nehme, merkt man erst einmal, wie hilflos man ist. Denn ab da läuft man dem Betroffenen nur hinterher. Bei Ehepartnern ist es noch schlimmer, denn nach einer langen, glücklichen Zeit fällt es umso schwerer, Hilfsangebote anzunehmen. Wenn hier Kinder mit im Spiel sind, ist die Bereitschaft Hilfe anzunehmen noch etwas größer, aber wenn es nur das Ehepaar gibt, ist es fast aussichtslos…
SF: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
HB: Aus psychologischer Sicht ist es so, dass jeder der Hilfe annimmt, gesteht sich ein, dass er es selbst nicht mehr alleine schafft. Bei uns im ländlichen Raum ist es noch schlimmer, denn den Angehörigen kostet das Umfeld, die Nachbarschaft viel Kraft, die man aufbringen muss um sich zu rechtfertigen.
„Wir wissen nicht ob die was denken, aber denken, dass die was denken“
Das bringt Angehörigen zusätzlichen Druck. Die gleichen Nachbarn, die sagen du musst deinen Angehörigen in ein Heim bringen, sind die, die dann sagen, die hätte den ganzen Tag Zeit gehabt, die hätte ihn doch zu Hause versorgen können. Viele Angehörige haben daher mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Manche drehen dann das Schuldgefühl um und übertragen es auf das Pflegepersonal und konfrontieren diese mit Vorwürfen was zu einer besonderen Herausforderung führt.
„Krebs ist alles Mist. Aber Demenz ist für mich die brutalere Krankheit. Bei einer Demenz stirbt jeder Mensch zweimal.“
Erst verliert der Mensch seine Identität, sein „Ich“ und dann kommt der physische Tod. Das schlimme ist auch, dass man zwar helfen möchte, aber die Krankheit nicht heilen kann und man letztlich hilflos ist. Es kann dann auch passieren, dass man dann auch 24 Stunden für jemanden da ist, der einen dann noch beschimpft.
SF: Wie kam es dann vom Verein zu der Gründung des Demenznetzwerks Erzgebirgskreis?
HB: Es fanden nach der Umfrage 2008 auch viele Gespräche mit Kliniken und anderen Akteuren statt, was wir tun können um zu helfen. Unter anderem waren wir dann 2008 in der Helios-Klinik in Aue und haben mit Dr. Koch und Dr. Bauer beschlossen, eine Angehörigensprechstunde zu etablieren, die wir dann auch 8 Jahre geführt haben. Seit Wechsel der Ärzte führen wir die Angehörigensprechstunde in Dorfchemnitz durch. Wir haben dann gemerkt, dass aus dem ganzen Landkreis Betroffene mit ihren Fragen zu uns kommen und dass wir alleine nicht weiterkommen. Wir brauchen ein Netzwerk! Wir haben dann noch einmal viele Akteure gezielt darauf angesprochen und eine „Netzwerkskonferenz“ mit Kliniken und Pflegediensten durchgeführt. Dies war die eigentliche Geburtsstunde des Netzwerks.
Das Netzwerk selbst ist auch keine Körperschaft, sondern ein loses Instrumentarium mit dem Ziel, dass wir Angehörigen Hilfen vor Ort konkret anbieten können. Der Sinn des Netzwerks ist es, Anlaufstellen zu bilden, denn vielen Angehörigen ist der Weg z.B. aus Schwarzenberg nach Friedersdorf zu weit. Das Ziel war also, dass Pflegedienste und alle die wollten sich daran beteiligen konnten. Sie konnten sich dort mit eintragen und es wurden Gespräche geführt. So konnten Angehörige sich an Pflegedienste vor Ort wenden. Diese haben sich wiederum gezielt an uns gewendet und wir haben dann mit den Angehörigen Gespräche vor Ort vereinbart. Es geht aber auch andersherum, dass Angehörige bei uns z.B. anrufen und wir diese an einen Pflegedienst vor Ort vermitteln.
2010 haben noch vor der Gründung des Netzwerkes eine weitere Umfrage unter 1000 Betroffenen im Landkreis gemacht mit einen Rücklauf von 34 %. Mein Sohn hat im Rahmen seiner Bachelorarbeit die Fragebögen mit ausgewertet und es ist eine recht umfangreiche, aussagekräftige Arbeit entstanden. Dies lief unter der Schirmherrschaft von Herrn Reismann vom Dezernat 2 im Landkreis, der auch Mitbegründer des Demenznetzwerks war. Wir haben dann 2010 aus den Ergebnissen der 2. Umfrage einen Anamnesebogen für Angehörige von Menschen mit Demenz entwickelt, wo es um Lebensqualität geht. Die Kliniken können da ohne Mehraufwand sehen, welche Vorlieben und Abneigungen der Patient hat. Es geht schon los beim Rasieren - Soll der Patient Nass oder trocken rasiert werden? Isst er lieber herzhaft oder süß? Das sind zwar alles Kleinigkeiten, können aber für einen Menschen mit Demenz von großer Bedeutung sein. Woher soll das Pflegepersonal das sonst wissen? Der Anamnesebogen ist quasi eine personalisierte Information zu dem Erkrankten und kann auch Konflikten vorbeugen.
SF: Wie ging es dann weiter mit dem Netzwerk?
HB: Dann kam 2012 das „Pflegenetzwerk“ vom Landkreis aus. Wir finden den Weg Sachsens mit den Pflegenetzen besser als den mit den Pflegestützpunkten. So haben wir dann entschieden, dass wir dann als selbständiges Demenznetzwerk uns dem Pflegenetzwerk eingliedern, so dass wir nicht zweigleisig fahren. Im Pflegenetz haben wir eine Gruppe „Demenz“ wo wir dann Probleme besprechen, wenn es welche in dem Bereich gibt. Jetzt haben wir zweimal jährlich ein Treffen, wo sich die Leistungserbringer treffen. Wir können uns so noch spezialisierter einbringen.
Wir haben dann auch einmal versucht Termine von Angehörigensprechstunden in den Altlandkreisen zu etablieren, z.B. in Marienberg, Stolberg, Aue, Schwarzenberg und Annaberg. Dieses Angebot wurde jedoch kaum nachgefragt und so gut wie nicht genutzt.
SF: Woran könnte das Ihrer Meinung nach gelegen haben?
HB: Es braucht wahrscheinlich drei Jahre, bis sich so ein Angebot etablieren kann und bis man vor Ort bekannt ist. Oft ist es auch so, dass man einen Arzt als Zugpferd oder Aufhänger braucht. Deshalb ist es uns auch nicht gelungen im Landkreis, außer in der Helios Klinik in Aue, eine Angehörigensprechstunde zu etablieren. Auch in der Klinik Erlabrunn war man von der Idee begeistert, aber kein Arzt war bereit das zu tun.
SF: Wie sollten Ihrer Meinung nach Netzwerke organisiert sein?
HB: Netzwerke müssen unabhängig sein. Je mehr sich verantwortlich fühlen, ein Netzwerk zu leiten, desto aussichtsloser wird die ganze Geschichte… Die Mitwirkung ist freiwillig, aber einer muss den Hut aufhaben und es muss immer um die Arbeit gehen, nicht darum viele Veranstaltungen zu machen. Dies war ganz wichtig für die Erhebung zu sehen. Das Netzwerk ist wie bereits erwähnt ein loses Konstrukt und nicht in einem Verein organisiert. Ein Verein kann zwar Fördermittel beantragen. Das Netzwerk selbst braucht aber keine Fördermittel beantragen, da ja viele Träger Mitglied sind die ja selbst schon gefördert werden, wie z.B. kommunale Träger oder Wohlfahrtsverbände. Mit der Gründung eines e.V. wäre die Mitwirkung der Akteure viel geringer und warum sollte man sich das noch komplizierter machen, als es sein muss? Die meisten Projekte, die gefördert werden sind auf die drei Jahre ausgelegt in denen sie gefördert werden und brechen danach zusammen oder es werden immer neue Punkte gesucht. Das führt dazu, dass man nie eine Arbeit konsequent durchführen kann, sondern immer wieder hier und da etwas Neues anfängt. Man kann sich daher nicht nur auf Fördermittel verlassen. Unser Verein, der VBAD finanziert sich hauptsächlich über Pflegekurse, die ich als Pflegekraft anbieten kann. Dazu muss ich aber auch sagen, dass unser Verein keine Mitarbeiter beschäftigt, sondern dass alles ehrenamtlich läuft.
SF: Worin bestehen die Ziele des Demenznetzwerks-Erzgebirgskreis?
HB: Die Ziele bestehen darin, in der Zusammenarbeit mit vielen Leistungserbringern Hilfsangebote für pflegende Angehörige vor Ort zu realisieren und anbieten zu können um den Betroffenen vor Ort Hilfestellung bieten zu können. Der Schwerpunkt besteht auch darin zu bestehenden Diensten Kontakt zu halten, dass die Arbeit weitergeführt wird und von ca. 80% der Leistungserbringer im Landkreis mitgetragen wird.
SF: Worin sehen Sie die Aufgaben des Netzwerks?
HB: Die Aufgaben bestehen im Zusammenfassen von bestehenden Angeboten, Erweiterungen der Angebote durch Schulungen von unserem Verein und auch anderen Anbietern und was ganz wichtig ist, dass wir uns um psychosoziale Belange kümmern aber nicht mit den Leistungserbringern in Konflikt geraten was Leistungsendgelder anbelangt. Dadurch, dass wir nicht in Konkurrenz mit Pflegediensten stehen funktioniert die Zusammenarbeit auch so gut.
SF: Welche Highlights gab es in den letzten zehn Jahren für das Netzwerk?
HB: Das wäre einmal die Gründung des Netzwerks selbst, dann die Erstellung der Homepage, … die vielen Gespräche mit Leistungserbringer und den pflegenden Angehörigen, die vielen Veranstaltungen, … eine Bilderausstellung über Carolus Horn, die die anhand der Grafiken den Verlauf der Krankheit schildert, … eine Validationsveranstaltung für Ärzte. Besonders freut uns, das wir für Leistungserbringer gezielt Schulungen anbieten und durchführen können, … eine Veranstaltung mit Herrn Liebe, der einen Film über seine an Demenz erkrankte Frau gedreht hatte …
SF: Was waren die größten Schwierigkeiten für das Netzwerk?
HB: Die größten Herausforderungen hatten wir vor drei Jahren, als die Förderung für den Verein auslief. Wir hatten damals eine Fachkraft eingestellt und die Anforderungen an das Netzwerk wurden größer und obwohl uns eine Förderung mündlich zugsichert wurde, wurde die Förderung nicht mehr bewilligt. Es war nicht absehbar. Eine Nachförderung wurde uns in Aussicht gestellt und wir haben diese auch beantragt. Es war wirklich mehr als grenzwertig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir uns darauf hätten vorbereiten können.
SF: Wie können Angehörige das Netzwerk finden?
HB: Das finden Sie über das Netzwerk selbst, also über die einzelnen Netzwerkpartner,… dann die Homepage und über Mund-Zu-Mund-Propaganda sind wir glaube ich schon ganz schön bekannt in unserem Landkreis.
SF: Wenn eine Fee käme und sie sich etwas wünschen könnten, was wäre das?
HB: Der erste Wunsch: Das es immer Menschen gibt, die bereit sind ehrenamtlich mitzuwirken.
Der zweite Wunsch: Das ganz viele Angehörige sich noch stärker öffnen um bestehende Angebote und Hilfen in ihrem Interesse und dem der Angehörigen eher anzunehmen.
Und der dritte Wunsch ist, dass ich die Kraft finde, es noch ein paar Jahre zu machen und dass ich dann jemanden finde, der es weiterführt. Das Netzwerk lebt für die Betroffenen und nicht als Selbstzweck für jemanden…
Weiterführende Links zum Demenznetzwerk-Erzgebirgskreis -> hier klicken
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